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Vollbremsung statt Einsteigen (PP01)

Irgendwann im Sommer, an einem frühen Sonntagmorgen, stand ich am Bahnhof Asten/Fisching und wartete auf die S-Bahn nach Linz. Allein war ich nicht. Auch andere hatten die gleiche Richtung im Sinn.

Es konnte nicht mehr lange dauern. Tatsächlich meldete sich schon die allgegenwärtige Stimme der ÖBB, Chris Lohner, so souverän wie immer: „S1 in Richtung Linz fährt ein, auf Bahnsteig 2.“ Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr – mechanische Zeiger, Datum manchmal etwas eigensinnig, eine Uhr, die ich liebevoll meine „Dumb-Watch“ nenne – und sah: 07:48 Uhr. Drei Minuten vor Plan!

Verspätungen, ja, die kennt man. Aber dass ein Zug zu früh kommt, war mir neu.

Von weitem sah man ihn schon, doch je näher er kam, desto mehr beschleunigte er. Er sah aus wie jemand, der es eilig hatte. In der nächsten Sekunde war allen am Bahnsteig klar: Dieser Zug brettert einfach durch. Und so geschah es auch – kein Halt, kein Zögern, kein weiteres Wort von Chris Lohner. Nur das donnernde Rauschen, der Wind im Gesicht und das kollektive Rückweichen der Wartenden um einen halben Schritt.

Doch damit war die Vorstellung noch nicht zu Ende. Zwei Zuglängen nach dem Bahnhof legte die Garnitur eine Vollbremsung hin. Die Schienen quietschten, weißer Rauch stieg wie von einer alten Dampflok auf. Wir standen da und starrten auf zwei rote Rücklichter – der Zug, der uns hätte mitnehmen sollen, stand nun mitten in der Landschaft.

Wir rätselten. War der Lokführer eingeschlafen? Hatte er die Station übersehen, wie man im Auto eine Ausfahrt verpasst? Darf ein Lokführer überhaupt so abrupt stoppen? Einer der Wartenden meinte beiläufig, er habe so etwas schon einmal erlebt. Ich fand diese Randbemerkung fast erstaunlicher als das Ereignis selbst.

Nach einigen Minuten des Stillstands, wir standen wie eine kleine Versammlung von Schöffen, die über Schuld und Unschuld berät, wechselten die roten Rücklichter zu weißen. Ein Umschalten, als hätte jemand beschlossen: „Na gut, dann machen wir’s halt ordentlich.“ Langsam kehrte der Zug zurück – als sei nichts gewesen.

Wir stiegen ein, suchten uns Plätze, und nach einer Weile setzte der Zug seine Fahrt nach Linz fort, so wie es eben sonst immer geschieht. Ich fragte die Zugbegleiterin mit einem Lächeln, ob der Lokführer heute besonders in Eile gewesen sei. Sie zuckte nur mit den Schultern: Sie hatte keinen blassen Schimmer, warum das passiert war. Nur, dass sie ordentlich durchgeschüttelt worden sei, als draußen der weiße Rauch aufstieg.

Der Rest der Fahrt nach Linz verlief ereignislos – nach dieser kleinen Vorstellung fast schon enttäuschend langweilig. Der Zug fand schließlich seinen Bahnsteig in Linz, blieb artig stehen und ließ uns aussteigen.





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