Bis zu diesem Zeitpunkt, an dieses Bild vor gut sieben Jahren entstand war ich vor allem in der Landschaftsfotografie verhaftet; diese Motivwelten eröffneten sich mir erst, als der Wunsch während eines Workshops entstand, einmal Architektur in den Blick zu nehmen. Statt eines weiteren Sonnenaufgangs wählten wir schließlich die Anton-Bruckner-Privatuniversität als Motiv, ein Schritt, der für mich letztendlich zur Betrachtung von Architektur im Close-Up führte.
Es ist die Spannung, die entsteht, wenn klare Formen auf scheinbar Zufälliges treffen. Zunächst fällt die Architektur ins Auge: Es wirkt, als hätte jemand Tafeln aufeinandergelegt, die stufenweise in die Höhe wachsen. Daraus entsteht Ordnung, Stabilität und eine subtile Harmonie. Das helle Weiß der „Tafeln“ und das einfallende Licht verleihen diesen architektonischen Elementen eine bemerkenswerte Leichtigkeit.
Fast irritierend drängt sich im Vordergrund ein dunkles, unscharfes Geflecht aus Zweigen ins Bild. Es wirkt ein wenig durcheinander und erschwert kurz den Blick auf die dahinterliegende Szene. Die Formen der Äste stehen im Kontrast zur geradlinigen Architektur und doch gerade durch ihre Unschärfe wird klar, welches dieser beiden Elemente die Aufmerksamkeit des Betrachters beansprucht.
Doch der eigentliche Blickfang, das Zentrum des Bildes, befindet sich ungewöhnlicherweise links unten im Eck. Nicht nur die Position ist ungewohnt, auch die Blickrichtung widerspricht den gängigen Regeln der Bildkomposition: Man lehrt uns, Lebewesen solle stets mit ihrem Blick ins Bild führen.
Doch hier zeigt sich, dass es ebenso wirkungsvoll sein kann, wenn sich der Blick scheinbar vom Bild abwendet. Der Vogel ist nur als Schattenriss zu sehen und doch in seiner Gestalt eindeutig erkennbar. Das Schwarz seines Körpers kontrastiert stark mit der Leichtigkeit der hellen Architektur.
Nicht nur sitzt der Vogel im „falschen“ Eck, quer durch das Bild verläuft auch noch eine Linie. Ein Teil des Blitzableiters des Gebäudes auf dem der rabenschwarze Vogel sitzt. Ursprünglich war der Gedanke, durch die unscharfen Äste Natur und Architektur visuell näher zusammenzubringen. Aber dann kam der Vogel ins Spiel und nach geduldigem Warten drehte sich der Vogel in die „falsche“, und doch perfekte Richtung.
In diesem Bild wirken mehrere Elemente zusammen: die unscharfen Äste im Vordergrund, die klare Architektur im Hintergrund, eine Linie, die sich quer durch das Bild zieht und als eigentlicher Blickfang, als visueller Mittelpunkt, der Schattenriss eines Vogels. Dorthin kehrt unser Auge, ob wir es wollen oder nicht, immer wieder zurück.
Denn entgegen der verbreiteten Ansicht, dass nur ein klassischer Bildaufbau aus Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund wirklich überzeugend sei, zeigt sich hier, wie gut eine Abweichung vom gewohnten „So gehört es …“ wirken kann.
Auf den ersten Besuch und den ersten Eindruck folgten von meiner Seite aus immer wieder fotografische Begegnungen mit diesem Gebäude bis zum heutigen Tag. Letztlich hatte ich das Glück, Ende 2019, während einer Zeit, in der regelmäßig Konzerte in der Vorweihnachtszeit in der Universität stattfanden, im großen Foyer meinen für mich neu gefundenen Blick auf Architektur in einer Ausstellung zeigen zu dürfen.
Letztlich haben die Erfahrungen, die ich dort machte, auch auf meine anderen Motivwelten abgefärbt. Technisch betrachtet sind für mich bei vielen Motiven ein enger Blickwinkel und eine lange Brennweite von großer Bedeutung geworden.
Mein Blick hat sich einerseits verändert, andererseits erinnert er mich an meine fotografische Anfangszeit – lange Zeit fotografierte ich überwiegend mit Brennweiten jenseits des Weitwinkels. Die klassische Landschaftsfotografie betrachtete ich stets aus der Perspektive weiter Bildwinkel, eine Herangehensweise, die sich im Laufe der Zeit bei mir nun deutlich gewandelt hat.
Auch nach inzwischen sieben Jahren zeigt sich bei jedem einzelnen Besuch, dass sich immer noch neue Perspektiven auf diese Architektur entdecken lassen – man muss sich nur die Zeit nehmen und genau hinschauen. Im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Close-Up-Workshop-Termine, so auch im Mai 2026, ist es mir stets ein großes Vergnügen, gemeinsam mit meinen Teilnehmer:innen auf die Suche nach spannenden Close-Ups zu gehen.
Links:
- close-Up Architecture 14.6.26
- Archiv anton bruckner privat universität - linz 2023-2018
Kommentar zum Thema „Freie Preiswahl - Pay what you want"